Von Kirchen mit und ohne Dach

October 21, 2019

In etwa wussten wir, was uns an der russisch-estnischen Grenze erwarten würde. Viel anders, als an der finnisch-russischen Grenze würde es nicht werden, dachten wir uns. Und tatsächlich war es sehr ähnlich, bis auf den russischen Fernreisebus Lux-Express, der nach uns am Grenzübergang ankam, aber vor uns abgefertigt wurde. Dann packten wir wieder alles Gepäck aus, gingen durch den Kontrollraum mit unserem Gepäck, das wieder niemand sehen wollte und sammelten uns am verschlossenen Ausgang. Irgendwann wurde der dann geöffnet und wir konnten an die frische Luft. Michael hatte den Bus schon durchgefahren und wir stellten unsere Koffer an den Straßenrand, damit Michael sie packen konnte, wie jedes Mal bei einer Hotelabreise. Der Platz im Bauch des Busses war knapp und Michael hatte sein eigenes System 10 Kubikmeter Koffer in 8 Kubikmetern Stauraum unterzubringen. Einem der Grenzer gefiel es nicht, dass wir herumstanden und er forderte uns mit Gesten auf, unser Gepäck einzuladen, was nach seiner Auffassung unsere Aufgabe wäre. Unsere Antwort „driver“ lies ihn verblüfft zurück und verfestigte sicherlich sein Bild vom dekadenten Westen. Dann ging es weiter und wir erreichten Narva bei leichtem Nieselregen.

OLYMPUS DIGITAL CAMERA Unmittelbar hinter der Grenze lernten wir Grazina kennen, die unsere Reiseleiterin in den baltischen Staaten sein würde. Und unmittelbar von hier startete auch sofort die erste Besichtigung in Estland; wir gingen zur nebenan gelegenen Hermannsfeste.

OLYMPUS DIGITAL CAMERA Die Festung wurde gegen Mitte des 13. Jahrhunderts von den Dänen gegründet. 1345 wurde die Festung von den Dänen mitsamt Narva und Ostestland an den Deutschen Orden verkauft. Nach dessen Auflösung war sie von 1558 bis 1704 in schwedischem, danach in russischem Besitz. Wie der Großteil Narvas wurde sie im Zweiten Weltkrieg fast vollständig zerstört. In der inzwischen restaurierten Festung befindet sich heute ein Museum. Wir liefen aber nur in der Außenanlage herum und sahen uns einige der verstreuten Basteien an.

OLYMPUS DIGITAL CAMERA Unser nächster Programmpunkt war das Gut Palmse. Vorher jedoch gab es noch in einer kurzen Mittagspause eine (Achtung Fachbegriff) „Busforelle“. Das ist eine Bockwurst mit Senf und Brot, die von Michael mit Bordmitteln warmgemacht wurde. Der Veranstalter (bzw. der Busfahrer) bietet sie immer dann an, wenn die Zeit knapp oder das kulinarische Angebot in der Umgebung gering ist. Hier in Narva war beides der Fall. Nun – leicht gesättigt - also ... auf gehts nach Palmse.

OLYMPUS DIGITAL CAMERA Das Areal des ehemaligen Landgutes befand sich vom 13. Jahrhundert bis 1510 im Besitz des St. Michaeli-Nonnenkloster zu Tallinn. Danach wechselte es mehrmals seinen Eigentümer und gelangte 1677 durch Heirat an die deutsch-baltische Familie von der Pahlen. Ende des 17. Jahrhunderts wurde mit dem Bau eines repräsentativen Herrenhauses begonnen, das seine heutige Gestalt im 19. Jahrhundert erhielt.

OLYMPUS DIGITAL CAMERA Um das Herrenhaus wurde ein Park angelegt, der zunächst nach französischem Vorbild gestaltet wurde. Später wurde der Park auf 18 Hektar vergrößert und erhielt den Charakter eines englischen Landschaftsparks. Das Gut wurde nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und nach Gründung des unabhängigen Staates Estland im Zuge der Auflösung der Landgüter 1919 enteignet. Bis zum Zweiten Weltkrieg beherbergte das Herrenhaus ein Erholungsheim des estnischen Schutzbundes Kaitseliit.

OLYMPUS DIGITAL CAMERA 1972 setzte die schrittweise Instandsetzung der erhaltenen und die Rekonstruktion der verlorenen Bauten des Gutes ein. Die Gebäude, neben dem Herrenhaus unter anderem auch die Orangerie, die Schnapsbrennerei und die Stallungen wurden nach und nach aufwendig saniert und restauriert. In einem dieser alten Gebäude hat sich ein Schmied eingerichtet, dem ich bei der Arbeit zusehen konnte.

OLYMPUS DIGITAL CAMERA Der Gutspark erhielt seine frühere Gestalt zurück. Der gesamte Komplex befindet sich unter staatlicher Verwaltung. Die Gestaltung und Möblierung der Innenräume des Herrenhauses erinnern an das Leben der Familie von der Pahlen. In den ehemaligen Kavaliershäusern ist das Besucherzentrum des Lahemaa-Nationalparks untergebracht.

OLYMPUS DIGITAL CAMERA Nach der Besichtigung fuhren wir nach Tallinn, wo wir die nächsten zwei Nächte verbringen würden. Der Veranstalter hatte die Abendessenzeit im Hotel bewusst nach hinten gelegt, weil nicht absehbar war, wie lange es an der Grenze dauern würde. Als wir dann gegen 18:30 auf Tallinn zufuhren, eröffnete uns Grazina, dass es erst um 21:00 Uhr Abendessen geben würde. Die Freude im Bus war sehr groß. Zwar schaffte es Grazina noch den Termin auf 20:30 Uhr vorzuverlegen, aber wir hatten bereits einen eigenen Plan, denn uns war das zu spät. 100 Meter neben dem Hotel war ein Einkaufszentrum mit Supermarkt. Wir erstanden Baguette, verschiedenen Käse, Tomaten, eine Flasche Wein und hatten ein privates Abendessen auf dem Zimmer.

OLYMPUS DIGITAL CAMERA Am nächsten Morgen besuchten wir erst kurz die große Sängermuschel, wo alle 5 Jahre ein großes Liederfest stattfindet. Die Tradition des estnischen Liederfests wurde 1869 begründet. Sie ist im Kontext des Erstarkens eines estnischen Nationalbewusstseins zu sehen. Beim Liederfest 2014 traten über 33.000 Sänger vor fast 153.000 Zuhörern auf. Das estnische Liederfest ist damit eine der größten Veranstaltungen für Laienchöre weltweit.

OLYMPUS DIGITAL CAMERA Dann fuhren wir in die Innenstadt und hier passierte es. Beim Aussteigen geriet ein Mitreisender an der hinteren Tür ins straucheln, verhakte sich mit einem Fuß und brach sich einige Knochen im Fuß, wie wir am nächsten Tag erfuhren. Er wurde mit einem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht und ist zwei Tage später nach Hause geflogen. Nach diesem Schreck begann für uns die Stadtführung. Wir besuchten zuerst die Alexander Newski Kathedrale, von der es allerdings nur Außenaufnahmen gibt, weil innen das Fotografieren nicht gestattet war (und wegen der sich hindurch schiebenden Menschenmengen auch schwierig gewesen wäre.)

OLYMPUS DIGITAL CAMERA Ganz anders im Talliner Dom. Dort war das Fotografieren erlaubt und das nächste Bild zeigt den Innenraum mit Altar und Kruzifix.

OLYMPUS DIGITAL CAMERA Der Tallinner Dom ist eines der Wahrzeichen der estnischen Hauptstadt. Er befindet sich auf dem Domberg und ist der Jungfrau Maria geweiht. Ursprünglich war die Kirche eine römisch-katholische Kathedrale. Mit dem Abschluss der Reformation in Estland 1561 wurde sie zur lutherischen Domkirche. Sie ist heute die Bischofskirche des Erzbischofs der Estnisch Evangelisch-Lutherischen Kirche. Auffällig waren die Wappen-Epitaphien an den Wänden.

OLYMPUS DIGITAL CAMERA Als Epitaph wird ein Grabdenkmal für einen Verstorbenen an einer Kirchenwand oder einem Pfeiler bezeichnet. Epitaphe können künstlerisch aufwendig gestaltet sein und befinden sich im Unterschied zum Grabmal nicht zwangsläufig am Bestattungsort. In der Vielzahl hatte ich das noch nicht gesehen.

OLYMPUS DIGITAL CAMERA Danach mussten wir ein wenig drängeln, um vom Domberg aus in die Stadt blicken zu können, denn der Platz an der Brüstung war knapp und begehrt. Aber mit meiner schlanken Gewandtheit und Astrids massiger Präsenz gelang es uns beiden, bis nach vorne zu kommen. Wenn ich das so lese, war es wohl doch eher anders herum.

OLYMPUS DIGITAL CAMERA Wir gingen hinunter in die Altstadt und es ist an der Zeit für ein bisschen Historie. Im Verlauf des 10. Jahrhunderts als Kaufmannssiedlung unter dem Namen Lindanise gegründet, wurde Reval (so hieß Tallinn damals) erst bei Beginn des 13. Jahrhunderts von den Dänen zu einer befestigten Stadt ausgebaut. Im Jahr 1285 erhielt Reval Anschluss an die Hanse und entwickelte sich zu einem überregionalen Knotenpunkt des organisierten Ostseehandels. Anno 1346 wurde die Stadt samt umliegender Ländereien an den Deutschen Orden übertragen. Ab jetzt sollten in Reval über viele Generationen hinweg fremde Herrscher bestimmen.

Mittlerweile sind wir am Marktplatz angekommen.

OLYMPUS DIGITAL CAMERA Mit dem Ende des Ordensstaates ging Reval 1561 in schwedischen Besitz über. Trotz zahlreicher sozialer und kultureller Fortschritte setzten fortan kriegerische Auseinandersetzungen mit Russland (1570/71 u. 1577) der Hafenstadt arg zu. Der Pest-Ausbruch (1602) und ein verheerender Großbrand (1684) taten ihr Übriges.

OLYMPUS DIGITAL CAMERA Im Zuge des Großen Nordischen Krieges nahmen ab 1710 russische Truppen Besitz von Reval. Von den Wirren des 1. Weltkriegs weitgehend verschont geblieben, stellte das Jahr 1918 für Reval eine weitere Zäsur dar. Die geschichtsträchtige Ostseehafenstadt hieß von nun an offiziell Tallinn und wurde zur Hauptstadt der erstmals unabhängigen Nation Estland.

Wir waren nun am Ende der gemeinsamen Führung angekommen und verließen die Altstadt durch das untere Tor.

OLYMPUS DIGITAL CAMERA Nun war es Zeit für ein leichtes Mittagessen und wir fanden ein kleines Bistro mit guter Auswahl und einer Toilette im ersten Stock. Das ist deshalb erwähnenswert, weil wir draußen saßen und es nicht einsehbar war, ob die Toilette (eine! Für beide Geschlechter!!) im Obergeschoß frei oder besetzt war. Ich bin mehrere Male die Treppe hochgelaufen und erfolglos wieder runtergekommen. Aber dann …Bilder gibt es keine. Astrid fand danach noch eine Boutique, die ihr zwei Kleider verkaufte und jetzt waren wir wieder besichtigungswillig und wollten die alte Stadtmauer erkunden.

OLYMPUS DIGITAL CAMERA Ende des 13. Jahrhunderts begann man mit dem Bau der mächtigen Stadtmauer. Vier Kilometer lang war der Verteidigungsring, der die Stadt umschloss – Tallinn war eine der am stärksten befestigten Städte im gesamten Ostseeraum. Fast die Hälfte der Stadtmauer und immerhin 26 der ehemals 40 Türme sind heute noch erhalten.

OLYMPUS DIGITAL CAMERA 1997 wurden die 16 Meter hohe Stadtmauer und die Altstadt mit ihren schiefen Kaufmannshäusern und dem lückenlosen Kopfsteinpflaster von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt.

OLYMPUS DIGITAL CAMERA Wir liefen danach um Hotel zurück und nahmen heute unser Abendessen im Hotelrestaurant ein. Am nächsten Tag fuhren wir nach Tartu, der zweitgrößten estnischen Stadt nach Tallin. Wir bestiegen den nicht sehr hohen Domberg und blickten in die Stadt hinunter.

OLYMPUS DIGITAL CAMERA Danach gingen wir zur und durch die Ruine des Doms zu Tartu. Mit dem Bau einer gotischen Kathedrale an der Nordseite des Dombergs wurde wahrscheinlich in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts begonnen. Die Kathedrale war den Aposteln Petrus und Paulus geweiht, den Stadtpatronen Tartus. Sie war die Hauptkirche des Bistums Tartu und einer der größten Sakralbauten Osteuropas.

OLYMPUS DIGITAL CAMERA Die Kirche war ursprünglich als Basilika geplant und erhielt später mit dem dreischiffigen Chor den Charakter einer Saalkirche. 1299 waren bereits Chor und Kirchenschiff in Benutzung. Um 1470 wurde der hohe Chorraum mit seinen Säulen und Bögen im Stil der Backsteingotik fertiggestellt. Der Dom wurde Ende des 15. Jahrhunderts mit der Errichtung der beiden massiven und festungsartigen 66 m hohen Zwillingstürme an der Westfassade abgeschlossen.

OLYMPUS DIGITAL CAMERA Mitte der 1520er Jahre erreichte die Reformation Tartu. Am 10. Januar 1525 wurde die Kirche durch die reformatorischen Bilderstürmer stark beschädigt. In der Folgezeit verfiel die Kathedrale immer mehr. Nach der Verbannung des letzten katholischen Bischofs von Tartu, Hermann II. Wesel (Bischof von 1552 bis 1558, † 1563), nach Russland, wurde die Domkirche endgültig aufgegeben. Ein Brand 1624 setzte dem Gebäude weiter zu. Und so stehen nurmehr die Mauern.

OLYMPUS DIGITAL CAMERA Auf dem Weg zurück in die Innenstadt (und zum Mittagessen) kamen wir an der Johanniskirche vorbei. Die Kirche ist eines der bemerkenswertesten Zeugnisse der Backsteingotik in Nordeuropa. Im Eingangsbereich saß eine junge Frau und kassierte einen Euro Eintritt. Den musste ich jetzt aber auch abfotografieren.

OLYMPUS DIGITAL CAMERA 1940 begann für Estland der Zweite Weltkrieg. In der Nacht zum 26. August 1944 kam es zu heftigen Kämpfen zwischen der Roten Armee und der deutschen Wehrmacht bei Tartu. Die Tartuer Johanniskirche wurde durch die Bombardierungen in Brand gesetzt und weitgehend zerstört. Während der sowjetischen Besetzung Estlands lag die Johanniskirche in Ruinen und diente als Lagerhalle.

OLYMPUS DIGITAL CAMERA Die Wiederaufbauarbeiten begannen erst 1989. Sie wurden weitgehend aus Spenden finanziert. Die Nordelbische Landeskirche und Tartus deutsche Partnerstadt Lüneburg leisteten einen erheblichen finanziellen Beitrag. Am 29. Juni 2005 wurde die restaurierte Johanniskirche feierlich eingeweiht. Den derzeitigen Restaurationsstand kann man auf diesem Bild erkennen.

OLYMPUS DIGITAL CAMERA Nach dem Mittagessen bestiegen wir den Bus und fuhren nach Riga.

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